Letzte Nacht habe ich so gut geschlafen wie seit Tagen nicht mehr. Entsprechend erholt startete ich die erste Etappe – zum Bäcker. Zunächst war es bewölkt, wie schön. Da ich aber schnell die Innenstadt hinter mir lassen wollte, nahm ich mein Brötchen mit und ging erstmal los.
Wie ihr vielleicht schon wisst, ist die Muschel oder der gelbe Pfeil die Wegmarkierung für die Jakobswege. Ein kurioses Bild aus der Lübecker Innenstadt möchte ich euch deshalb nicht vorenthalten.

Der Jakobsweg aus der Innenstadt heraus ist mitunter durch Baustellen behindert und deshalb nicht ganz einfach.
Nach etwa zwei Kilometern hatte ich die größten Hürden hinter mich gebracht und machte erstmal Frühstückspause.
Kurz darauf ging der Weg einige Kilometer der Trave entlang, links die Trave, rechts Kleingärten. Die Sonne kam dabei schon wieder ordentlich raus. Während in anderen Teilen Deutschland der Starkregen zu Überflutungen geführt hatte, war es hier zwar trocken, aber schwül warm.

Plötzlich gab es widersprüchliche Wegmarkierungen – diesmal wirklich!

Der Grund war recht einfach: Der eine Weg bezeichnet die Via Skandinavica und der andere Weg die Via Baltica. Letzterem Weg folgte ich.
Bald darauf gab es die Wahl zwischen dem eigentlichen Weg und einer Variante. Ich entschied mich für die Variante, was sich zunächst als gute Entscheidung entpuppte weil es alsbald über breite Waldwege weiterging, schön viel Schatten! Wobei auch die Luft im Wald mehr und mehr schwül wurde. Dort im Wald hatte irgendjemand eine einfach Holzhütte in Form eines Tipis errichtet.

Im weiteren Verlauf wurde die Pfade aber immer schmaler und es ging über Stock und Stein auf Trampelpfaden weiter.

Über zwei Stunden war ich nun schon unterwegs und mein Körper lechzte nach einer Pause. Endlich, nach 2,5 h und damit nach gut 10 km nach meinem Frühstück, fand ich in einer Siedlung kurz vor der Stadtgrenze von Lübeck, südwestlich von Hamberge, eine etwa 190 Jahre alte Eiche. Dort legte ich mich erstmal in den Schatten und pausierte für etwa eine Stunde. Uff, was war ich fertig. Gut 1,5 Liter Flüssigkeit trank ich allein in der Zeit. Noch acht anstrengende Kilometer sollten es bis zum heutigen Ziel sein.
Als ich weiter ging nahm ich das erste Mal auf meiner Reise mein Diktiergerät aus der Hüfttasche meines Rucksacks. Martin, bei dem ich in Bremen unterkommen kann und den ich 2013 kennenlernte, hatte mir den Tipp gegeben, da ich auf diese Weise meine Gedanken während des Gehens festhalten kann. Und das war mir nun ein besonderes Anliegen. Während ich die folgenden Worte tippe, höre ich mir gerade meine Aufnahmen an. Achtung es wird lang und vielleicht verworren, aber gerne möchte ich euch an meinen Gedanken Teil haben lassen. Ich habe sie kursiv gesetzt, so könnt ihr sie entweder einfacher wiederfinden oder überspringen.
Nachdem auch schon der gestrige Tag so anstrengend war, fragte ich mich, warum ich das alles überhaupt mache, warum gehe ich diesen Weg? Selbstzweifel machten sich breit.
Ich musste an Parallelen aus meinen Leben denken: Wie war es in anderen Bereichen auf Widerstände zu stoßen? Durchgefallene Klausuren im Studium zum Beispiel. Auch da gab es Hürden und Frust, Wut und Enttäuschung, Zweifel, ob ich es schaffe. Damals habe ich mich durchgebissen. Auch jetzt auf dem Pilgerweg, es ist ähnlich. Klar, am Anfang in den ersten Tagen, da musste sich der Körper erst noch anpassen, das ist normal. Aber heute kämpfe ich, spüre richtige Widerstände. Und gleichzeitig mit der Frage, was ich hier eigentlich mache, warum ich diesen Weg gehe, kamen die Fragen hoch, was danach sein wird. Auch wenn es bis dahin noch Zeit ist, schließlich habe ich nicht vor, abzubrechen, bewegen mich diese Fragen. Dabei geht es mir nicht darum, was ich in den nächsten 10 Jahren tun werde, die nächsten 2-3 Jahre reichen erstmal.
Damals als ich 2013 den Weg von Bochum gegangen bin, direkt nach meiner Promotion, das war eine Zeit der Veränderung: Die Zeit an der Uni hinter mir, die Welt der Arbeit vor mir. Damals auf der Pilgerreise hatte ich gelernt, dem Schicksal zu vertrauen, denn der Weg gab mir das, was ich brauchte, wann ich es brauchte, sei es Wasser, ein Platz für das Zelt oder sonstige Dinge. Aus der Erfahrung damals ging ich nach meiner Pilgerreise mit einer Entspanntheit auf Jobsuche, bewarb mich breitgefächert und wurde letztlich 5 Jahre Technologiescout.
Danach zog ich zu Sarah nach Greifswald, entschied mich, einfach nochmal was zu studieren, legte das aber zeitnah ad acta als ich meine Stelle an der Unimedizin bekam, quasi ein Wink des Schicksals.
Der Wunsch, noch etwas zu studieren, kam auch durch eine gewisse Eigenart von mir: Trotz Promotion in Physik und damit einer gewissen Spezialisierung, mag ich den Gedanken des breitgefächerten Wissens. Es gibt in verschiedenen Bereichen richtige Experten, die Jahre und Jahrzehnte das gleiche machen, zu richtigen Koryphäen werden. Irgendwie hat mich das bisher nie so begeistert. Liegt es daran, dass ich es mag, dass es bei neuen Dingen eine steile Lernkurve gibt und bin ich einfach nur zu faul, die Mühen der immer flacher werdenden Lernkurve auf mich zu nehmen, um Experte zu werden, oder ist es wirklich meine Begabung durch breitgefächertes Wissen Verknüpfungen zwischen Disziplinen zu entdecken und damit weniger einem Dogma bzw. einer Ideologie zu verhaften, die manche Experten zu haben scheinen, die sich jahrzehntelang spezialisiert haben? Ich werde weiter über diese Frage nachdenken müssen.
Nun stellte ich mir nach meiner Erfahrung auf meiner Pilgerreise 2013 noch folgende Frage: Wenn ich mich vom Schicksal treiben lasse, ist das schön und gut, und es waren wertvolle Erfahrungen, die das Schicksal bot, aber wenn ich nur das Schicksal entscheiden lasse, bin ich in einer sehr passiven Rolle. Ist es wirklich das, was ich will? Ist es nicht besser das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, es zu formen? Aktive Entscheidungen fällen und nicht passiv annehmen, was einem das Schicksal bietet?!
Für mich habe ich heute entschlossen: Ich gehe diesen Weg so weit wie ich möchte, es ist eine aktive Entscheidung. Klar ist ein Ziel wichtig (hier: Santiago), aber wenn ich das Ziel zu dogmatisch sehe, verliere ich den Weg aus den Augen.
Sollte ich irgendwann der Meinung sein, dass der Weg früher endet, dann wird das von mir eine aktive Entscheidung sein, die ich dann fälle. Wer weiß, vielleicht gibt mir der Weg Antworten auf Fragen, wobei ich die Fragen aktuell nicht mal kenne. Und wenn das passiert kann es wichtig sein, diesen Antworten zu folgen.
Diese ganzen Gedanken machte ich mir auf knapp 3 km (innerhalb von 45 min) bis ich in Klein Wesenberg auf folgendes Schild stieß.

Ich entschied mich aktiv, hier nun eine Pause zu machen. Im gesamten Ort gab es Besonderes zu entdecken, was mit dem Pilgern zu tun hat, viele Pilgermuscheln zum Beispiel.

Etwa 1,7 km vor meinem Ziel entschied ich mich für eine weitere Pause. Die Hitze und die Anstrengungen, aber auch meine Gedanken erforderten es einfach, kürzer zu treten, in Ruhe weiter zu gehen, nicht zu hetzen.
Gegen 16 Uhr und nach 20 km kam ich dann heute in Reinfeld an.