Neben großem Interesse und einer gewissen Begeisterung für das Vorhaben ist eine häufige Frage, die ich gestellt bekommen habe, als ich ersten Personen von meinem Plan berichtete, von Greifswald nach Santiago de Compostela zu pilgern, die nach dem Warum. Insbesondere auch, da ich bereits 2013 eine längere Pilgerreise unternommen hatte (von Bochum nach Santiago) und es damit nichts Neues mehr sei. Auch wenn Worte meine Motivation nur teilweise vermitteln können, möchte ich dennoch an dieser Stelle auf diese Fragen eingehen.
Warum machst du so etwas?
Um diese Frage zu beantworten, blicke ich zurück auf die Anfänge meiner Pilgerschaft. Meine erste Pilgerreise erlebte ich im Jahr 2000, als meine damalige Schule, das Gymnasium Leoninum, unter dem damaligen Schulleiter Pater Wilmer auf die Idee kam, mit der gesamten Schülerschaft in Spanien auf dem Jakobsweg zu pilgern. Damals als 16-jähriger Jugendlicher war diese Pilgerreise zwar eine besondere Form der Klassenfahrt, doch die besondere Verbindung zum Pilgern entwickelte sich erst viele Jahre später. Es dauerte 10 Jahre bis ich im Jahr 2010 während meiner Promotion fünf Wochen Urlaub am Stück nahm und mich auf meine erste eigene Pilgerreise begab, auf dem Camino Frances von St.-Jean-Pied-de-Port bis nach Santiago de Compostela. Es war anstrengend, aber auch ein tolles Erlebnis.
Als sich meine Promotion 2013 dem Ende neigte, war mir klar, dass ich als Abschluss dieser Zeit irgendeine besondere Reise unternehmen möchte und so entschied ich mich, von Bochum nach Santiago zu pilgern. Bereits damals fragte man mich, warum ich denn nicht, mit der Promotion in der Tasche, nach vielen Jahren des Studiums, nun richtig Geld verdienen und in meinem Berufsleben richtig durchstarten möchte. Meine damalige Antwort, die auch heute noch aktueller denn je ist, war: Es muss mehr geben als Schule, Studium, Arbeit, Rente, Tod.
Im Gespräch mit anderen Menschen höre ich mitunter Aussagen wie „So etwas würde ich auch gerne tun, aber ich habe dafür keine Zeit“. Als ich selbst noch ein Kind war, hörte ich meine Eltern sagen: „Wenn die Kinder aus dem Haus sind, dann möchten wir dieses oder jenes tun.“ Wenn man seine Träume und Sehnsüchte aber immer weiter in die Zukunft verschiebt, stellt sich mir die Frage, ob man sie überhaupt irgendwann umsetzt, denn man weiß nie, ob die eigene Gesundheit es einem z.B. erlaubt, den eigenen Träumen und Sehnsüchten in 10 oder 20 Jahren nachzugehen.
Letztlich bedeutet eine solche Pilgerreise, auf der man für mehrere Wochen oder Monate unterwegs ist, auch eine tiefe Beschäftigung mit sich selbst, denn den Weg geht man nicht nur mit seinem Körper – der macht sowieso irgendwann schlapp – sondern ganz besonders mit seinem Kopf; irgendwann ist es nur noch der eigene Wille, der einen vorantreibt, es ist ein Kampf gegen sich selbst, und der findet zuallererst im eigenen Kopf statt. Man hat Begegnungen mit anderen Menschen, doch egal wie nett und wertvoll diese Begegnungen sind, den Weg gehen muss man immer noch selbst, mit all seinen Hürden, mit den Schmerzen und den Anstrengungen, die er für einen parat hält. Insofern eignet sich solch eine Pilgerreise auch sehr gut dafür, für sich selbst herauszufinden, was einem wichtig ist. Eine solche Pilgerreise erhält dadurch auch einen spirituellen Aspekt.
Zu guter Letzt gibt es noch einen weiteren – womöglich recht profanen aber nicht weniger wichtigen – Grund: das Abenteuer. Aus dem Alltag auszubrechen und die Routine hinter sich lassen, nicht zu wissen, was morgen oder übermorgen kommt, die Welt jeden Tag neu entdecken. Das ist etwas, was in einem geregelten Alltag mit festen Strukturen und festen Terminen selten vorkommt. Gerade da es in den letzten gut 1,5 Jahren Corona-bedingt viele Einschränkungen gab, die Länder sich abschotteten und aus dem offenen und freien Europa wieder einzelne Staaten wurden, die ihre Grenzen kontrollierten, ist solch ein Weg durch halb Europa ein schönes Sinnbild für die sich langsam wieder öffnende Welt. Letztlich bedeutet eine solche Pilgerreise auch eine Menge Freiheit: Ich muss nicht darüber nachdenken, was ich in einer Woche machen werde oder welche wichtigen Termine ich in den nächsten Tagen nicht vergessen darf, denn es gibt nur eines, was ich Tag für Tag tun werde, einen Schritt vor den anderen setzen.
Ein gewisses Restrisiko bleibt natürlich, dass ich den Weg abbrechen muss, weil Virusvarianten die Lage verschlimmern, aber würde ich nur auf absolute Sicherheit setzen, würde ich nicht einmal den ersten Schritt gehen.
Und warum nochmal der Jakobsweg? Kennst du den Weg nicht schon?
Eine sehr berechtigte Frage, schließlich gäbe es verschiedene Wege und Möglichkeiten, die o.g. Ziele zu erreichen. Und da ich bereits 2013 eine große Pilgerreise nach Santiago unternommen hatte, ist die Frage nachvollziehbar, warum es wieder nach Santiago geht.
Zunächst muss ich sagen, dass ich mit dem Jakobsweg bzw. den Jakobswegen – es gibt schließlich viele Jakobswege in Europa – sehr viel Schönes verbinde, denn es ist ein Weg, den viele Menschen unabhängig von ihrem Alter, ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder auch ihrem Beruf gehen, er verbindet die Menschen.
Dann ist noch zu sagen, dass ich dieses Mal nicht zwingend auf den gleichen Wegen unterwegs sein werde, denn wie gesagt gibt es viele Jakobswege in Europa. Und selbst wenn: Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass selbst der gleiche Weg nicht zum selben Weg wird, denn auch wenn ich den gleichen Weg wieder und wieder gehe, werde ich neue Eindrücke und Erfahrungen sammeln, weil sich die Landschaft verändert haben wird, weil ich auf andere Menschen treffe und ganz wichtig: weil ich ein anderer Mensch sein werde.
Und was kommt danach?
Gute Frage, ich weiß es nicht. Doch genau darum geht es schließlich. Ich gehe diesen Weg ohne, dass ich einen festen Termin habe, wann ich wieder zurück sein muss, ohne dass ein Job auf mich wartet. Was danach kommt, wird sich zeigen, warum jetzt den Kopf darüber zerbrechen, wenn erstmal ein anderer Weg, der Jakobsweg, auf mich wartet?